Empört Euch Nicht!






   Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten,wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.
   Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?

Man stelle sich folgendes Gedankenexperiment vor: Ein Autofahrer fährt über eine der Mainbrücken in Frankfurt. Just da überkommt es ihn: er möchte die Aussicht auf die Skyline genießen, also beschließt er zu halten, den Warnblinker anzustellen und aus dem Wagen zu steigen, um ein paar Schritte auf der Brücke zu gehen. Er denkt sich nichts weiter dabei, schließlich gibt es ja einen zweiten Fahrstreifen, auf den die anderen Verkehrsteilnehmer ausweichen können. 

„Das ist ja wohl die Höhe..!“
Das absurde Theater, welches ihn kurz darauf heimsuchen würde, sollte ihn ins Mark erschüttern. Nicht nur das unerträgliche Hupkonzert der anderen Verkehrsteilnehmer, die ob seiner angeblichen Dreistigkeit vor Empörung kaum an sich halten konnten, vergällte ihm den Genuss der Aussicht auf die Stadt, sondern bald auch ein silber-blauer Polizeiwagen, besetzt mit zwei Beamten, deren Mienen die ganze Schwere und Ernsthaftigkeit des Gesetzes auszudrücken versuchten und bis in den Tod entschlossen schienen dieses hier gegen ihn durchzusetzen.
Schnell waren sie bei ihm, redeten ihn im Brustton der Autorität an, der keinen Zweifel, keinen Raum für Diskussion, in keiner Nuance auch nur den Hauch eines Widerspruchs duldete. Es war keine Aufforderung, vielmehr ein Diktat, das ihn vor Kälte erschaudern ließ. Ein Diktat, das die Ablehnung eines jeden Widerspruchs vorne weg in sich trug, jeglicher Opposition zuvorkam, indem es den Opponenten zu einem Delinquenten, einer Gefahr für die Allgemeinheit erklärte, zu einem gesetzeslosen Anarchisten, dessen selbstbezogene Tat, ja! Tat, die herrschende Ordnung vor ein existenzielles Problem stelle. Dies Diktat ist jedoch nicht nur Befehl zu  Gehorsam sondern auch Tadel der Abweichung. Vor allem ist es Tadel! Denn die Abweichung von der Norm wiegt für den Ordnungshüter viel schwerer, als die eigentliche durch die Abweichung vollendete Tat, sei sie noch so schwer. In der erzwungenen Einhaltung der Straßenverkehrsordnung, oder allgemeiner ausgedrückt, des Gesetzes und deren Überwachung drückt sich deutlicher als in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen das stählerne Gerüst der herrschenden Ordnung aus: die Disziplinierung des Individuums ist so weit gediehen, dass die herrschende Ordnung als natürliche Ordnung erscheinen soll und erscheint, als gewissermaßen gottgegebene, wenn man so will (oder darauf besteht), deren Übertretung sofort mit Sanktionen begegnet wird.
Und nichts scheint dem Normalbürger natürlicher zu sein, als den Exekutor der herrschenden Ordnung, den Stadtpolizisten, zu Hilfe zu rufen, um wieder Ordnung in die Ordnung zu bringen. Der Verkehr müsse doch flüssig laufen; es könne ja nicht angehen, dass einer den ganzen Laden aufhalte, das Wohl aller gehe schließlich über das Wohl des Einzelnen, regt er sich auf.


Empörung als Ersatzbefriedigung frustrierter Wutbürger
Die hier sichtbar werdende Empörung scheint überhaupt eine neue Modeerscheinung unter den heutigen Wutbürgern zu sein, die sich nicht nur bei solch nichtigen Gelegenheiten Bahn bricht, sondern auch bei kolossalen Angelegenheiten, etwa wenn das Oberhaupt der herrschenden Ordnung korrupt ist. Auch hier Empörung aller Orten. Der zunächst blamierte Ober-Ordnungshüter grient in die Kamera, lügt den Beordneten auf die Mattscheibe und macht weiter, gewiss, dass er in einigen Wochen das Gröbste überstanden haben wird, da er ja große Vorbilder im Aussitzen hat.
Hat sich der Nebel der Empörung jedoch erst einmal gelegt, der Wutbürger sich verausgabt, so wird offenbar, dass die apolitische Empörung der Vielen dabei mehr mit Neid und weniger mit Kritik zu tun hat. Das „wieso darf er so etwas und wir nicht?“ schwingt als latenter Vorwurf immer mit. Es erinnert stark an die fehlgeleitete Empörung, die laut und lauter wurde, als im Zuge der Banken- und Finanzkrise die Aufmerksamkeit der Aufgebrachten auf die Boni der Banker fiel anstatt den Verteidigern der herrschenden Wirtschaftsordnung deren immanente und andauernde Krisenhaftigkeit, Unterdrückung und Verlohnsklavung vorzuhalten.


Frust, Neid, Entsolidarisierung und Rassismus – schon mal gehört?!
Der Neid und die Empörung auf die Millionen der Banker drückt in letzter Konsequenz nur den intellektuellen Verfall einer Gesellschaft aus, die selbst angesichts eines immens gesteigerten Konkurrenzdrucks durch Hartz IV, Niedriglöhnen, Leiharbeit, zunehmender Prekarisierung von Lebensverhältnissen, Korruption und Vetternwirtschaft auf höchster politischer Ebene keinen Grund zu Rebellion und Revolte sieht. Schlimmer noch: Die desintegrativen Folgen dieser Politik zeitigen ihre Wirkung, wenn angesichts dieser Problemlagen der eigentlich zu erwartende gesellschaftliche Zusammenschluss und Eintritt für gemeinsame soziale und politische Rechte sich realiter in sein Gegenteil verkehrt: Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und nationalsozialistischer, gewalttätiger Rassismus werden zum Merkmal einer Gesellschaft, in der die eigene Krisenerfahrung ursächlich auf Ausländer, Moslems und andere Minderheiten zurückgeführt wird. Und in einer Art kollektiver dissoziativer Identitätsstörung empört sich der Wutbürger wiederum über den großen Bruder vom NSU, in der Weise, als ob sein eigenes Schimpfen über Ausländer, Moslems, Schwarze, Arbeitslose und „Sozialschmarotzer“ lediglich einen offenen Missstand ausdrücke und nichts Verwerfliches oder gar Rassistisches beinhalte. Das  Empörungspotential der NSU-Morde wirkt so als Katalysator für die weitere Normalisierung von kleinbürgerlich-dumpfen Fremdenhass.
Nicht nur in diesem Lichte betrachtet ist Empörung schädlich für eine Gesellschaft; sie gebiert Stillstand, gesellschaftlich wie politisch. Empörung wirkt herrschaftsstabilisierend, weil sie den Anschein von Kritik erweckt, ohne kritisch zu sein, zugleich aber als Ablassventil fungiert, um die Wut und die Unzufriedenheit der Massen zu kanalisieren, oder technisch gesprochen: sie kontrolliert abkühlen zu lassen. Empörung ist nicht progressiv, sondern demokratiefeindlich, weil sie den Blick auf das wesentliche verstellt, Kritik zu einem Statement auf der Straße verkommt, in welchem lediglich eine Meinung zu einem gerade von den Medien hochgejazzten Thema (Stuttgart 21, Wulff/Korruption, Boni, Fluglärm) abgefragt wird, ohne das systemische der Krise zu erfassen: Die herrschende Ordnung hat ihren demokratisch-sozialstaatlichen Charakter längst verloren. Die Partikularinteressen von multinationalen Konzernen und entrückten Eliten bestimmen längst die politische Agenda, das Volk wird nur noch zum Abnicken an die Wahlurnen bestellt.


Occupy What? Occupy yourself!
Aus diesen Gründen will auch keiner die Jungs und Mädels von der Occupy Bewegung ernstnehmen. Denn für die herrschende Ordnung stellen sie keinerlei Gefahr dar – ihre apolitische Empörung (1)  hat keinen Bezug zu denjenigen, die zu den wirklich Leidtragenden dieser Ordnung gehören: den Arbeiter_innen, Arbeitslosen, Armen, Abgehängten, zu denjenigen, aus deren Körpern der Reichtum der Mittelstandsgesellschaft buchstäblich geschöpft wird. Sie sieht man nicht vor der EZB in Frankfurt campen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern, als dass sie sich einen Ausflug in die City leisten könnten. Am unteren Ende der herrschenden Ordnung stehend, hat sie ihre Existenz eines gelehrt: Durch ein Zeltlager vor einer Bank sind Emanzipation und Befreiung nicht zu erreichen.

(1) „Die Abzocke der Gesellschaft durch die Banken, die Ausbeutung der großen Mehrheit, die Korruption unter Politikern, Managern und Bankern empört uns. (sic!)“, gefunden auf der Occupy Frankfurt Internetpräsenz, 07.02.2012.

von Imad Mustafa

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